Agrar - Innovationen

Werner Rösener

Agrarinnovationen und ihre Folgen vom
Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert

Fachtagung der "Gesellschaft für Agrargeschichte" , 24. Juni 2011 in Frankfurt/Main

Im 19. und 20. Jahrhundert wandelten sich im Zuge der Industrialisierung Wirtschaft
und Gesellschaft Europas grundlegend. Im Kontext dieses Wandels veränderten sich
auch die Landwirtschaft und allgemein die Lebensbedingungen im ländlichen Raum
tief greifend. Dieser Prozess vollzog sich sowohl im agrarischen Produktionsbereich
als auch in der ländlichen Sozialstruktur, sodass einerseits die Produktivität der Agrar-
wirtschaft enorm anstieg und andererseits sich der Anteil der landwirtschaftlich Er-
werbstätigen an der Gesamtbevölkerung bedeutend verminderte. Beeindruckend sind
dabei vor allem die Fortschritte in der Landwirtschaft während der vergangenen zwei
Jahrhunderte. Waren um 1800 in Deutschland noch mehr als 60 Prozent der Bevöl-
kerung im Agrarsektor beschäftigt gewesen, so sank dieser Anteil bis 1950 auf 25
Prozent; im relativ kurzen Zeitraum von 1950 bis 2010 verminderte sich dieser Anteil
noch rapider, nämlich auf nur nocl1..zwei Prozent. Gleichzeitig stieg die Produktivität
der Agrarwirtschaft: Waren um 1950 pro Hektar Landfläche erst 27 Doppelzentner
Weizen geerntet worden, so stieg dieser Flächenertrag bis 1975 auf 44 Doppelzentner
und liegt heute ungefähr bei 70 Doppelzentner pro Hektar. Ähnliche Produktivitätsfort-
schritte ergaben sich in der Milchwirtschaft und in der Tierzucht. Diese Fortschritte
hatten allerdings partiell auch negative Folgen, wie Überdüngung von Feldern, Ver-
unreinigung von Gewässern, Beeinträchtigung von Flora und Fauna ("Artensterben"),
Bodenschäden durch Druckbelastung und Erosion, Luftverunreinigung in Nähe von
großen Tierhaltungsstallungen und vor allem eine kritische Einstellung eines großen
Teils der Bevölkerung zu Massentierhaltung, Gentechnik und zur intensiven Flächen-
bewirtschaftung in den Zentren der Agrarproduktion. Die Überproduktion wurde all-
mählich zu einem Hauptproblern der modernen Intensivlandwirtschaft, die durch Ge-
treideüberschüsse, großflächigen Maisanbau und Düngungsprobleme charakterisiert
ist.
Worauf beruhten die erstaunlichen Fortschritte in der Landwirtschaft? Welche
Agrarinnovationen haben sich in der älteren und jüngeren Landwirtschaft Europas im
Laufe der historischen Entwicklung vollzogen? Welche Erfolge sind in der Bodennut-
zung, in der Viehhaltung, im Pflanzenbau und in der Anwendung neuerer Landbau-
techniken vom Mittelalter bis zur Moderne zu beobachten?
Die Fortschritte in der Agrarwirtschaft des Hochmittelalters sind unübersehbar. Hin-
sichtlich der Bewirtschaftungsformen ist vor allem auf die Ausbreitung der Dreifelder-
wirtschaft zu verweisen, die zu einer beträchtlichen Steigerung der Bodenerträge führte.
Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität stand damals in einem engen Zusammenhang
mit den Verbesserungen in der hochmittelalterlichen Agrartechnik, wie archäologische
Befunde beweisen konnten. Bessere Arbeitsgeräte und leistungsfähige Anspannungen
für Pferd und Rind ermöglichten eine intensivere Bodenbearbeitung und steigerten die
Ernteerträge, die eine wachsende Bevölkerungszahl ernähren mussten. Kann man an-
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gesichts dieser Entwicklung von einer "agrarhistorischen Revolution des Mittelalters"
sprechen, wie es der französische Historiker Georges Duby getan hat? Für das Zeitalter
der industriellen Revolution hat man in einem ähnlichen Sinne von einer .Agrarre-
volution" gesprochen. Inwieweit ist diese Charakterisierung der agrarwirtschaftlichen
Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts zutreffend? In Wechselwirkung mit
enormem Bevölkerungswachstum und zu den Agrarreformen (Bauernbefreiung, Grund-
entlastung, Flurbereinigung) kam es von der Mitte des 18. bis zum letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts zu einer Verdoppelung der Agrarproduktion. Im Wesentlichen sind diese
Ertragssteigerungen offenbar auf eine bessere Ausnutzung der natürlichen und traditi-
onellen Faktoren zurückzuführen: Auf teilung der Gemeinheiten, Bebauung des bishe-
rigen Brachfeldes, Einführung neuer Nutzpflanzen, Ertragssteigerung je Flächeneinheit
durch eine bessere Düngung und Ausdehnung der Viehhaltung. Stimmt diese Erklärung
aber mit den Ergebnissen der neueren Forschung überein?
Während die englische Landwirtschaft eine Vorreiterrolle in der Verwendung mo-
derner Landbautechnik spielte, kam die Mechanisierung in der französischen und
deutschen Landwirtschaft nur langsam voran. Zu den arbeitssparenden Maschinen,
die sich im frühen 20. Jahrhundert allmählich ausbreiteten, gehörten vor allem Drill-
geräte sowie Dresch- und Mähmaschinen. Diese technischen Geräte waren bis zum
Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf den meisten größeren Betrieben bereits vorhan-
den. Die Hauptphase der Mechanisierung der deutschen Landwirtschaft setzte aber
erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In den drei Jahrzehnten von 1950 bis 1980 wur-
de die Landwirtschaft in einem Maße durch Maschinen und neue Agrartechniken ver-
ändert wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Hauptansatzpunkt der Mechanisierung der
meisten landwirtschaftlichen Arbeitsvorgänge war der verstärkte Einsatz des Traktors.
Die Zahl der Traktoren, aber auch die der Mähdrescher sind Hauptindikatoren für den
Umfang des Maschinenparks und damit auch für den Mechanisierungsgrad in den
einzelnen Ländern Europas. Die Folge war eine weit gehende Ersetzung ländlicher
Arbeitskraft durch Maschinen; es kam zu einer radikalen Verminderung der Arbeits-
kräfte im Agrarsektor und zu einer beträchtlichen Vergrößerung der Betriebe. Die Pro-
duktivität stieg gewaltig, es mehrten sich aber auch die Probleme, wie Überproduktion
und Belastung der natürlichen Ressourcen. Die Mechanisierung der Landwirtschaft
Westeuropas war in den vergangenen Jahrzehnten in einen viel größeren Prozess ein-
gebunden, nämlich den der "Industrialisierung der Landwirtschaft" in einem globalen
Gesamtrahmen. Mit diesem Terminus wird eine Entwicklung charakterisiert, die nach
dem Vorbild der amerikanischen Landwirtschaft durch das Vordringen industrieller
Produktionsformen im Agrarsektor gekennzeichnet ist und deren Ergebnis eine mo-
derne Intensivlandwirtschaft darstellt. Riesige Felder, Großmaschinen und Massen-
tierhaltung verändern das Bild der traditionellen Landwirtschaft radikal. Dieser tief
greifende Strukturwandel wird in der agrarpolitischen Diskussion von der einen Sei-
te als konsequente Nutzung des agrartechnischen Fortschritts begrüßt, während die
andere Seite auf die sozialen und ökologischen Negativwirkungen hinweist und mit
Begriffen wie .Agrarfabriken" und .Agrarindustne" operiert. In der Tat ist mit dem
Prozess der Industrialisierung der Landwirtschaft neben den großen Vorteilen eine
Vielzahl von Folgeproblemen verbunden, die teilweise als Symptome einer Krise der
postmodernen Landwirtschaft zu verstehen sind.
Die Vorträge der Tagung werden sich aus unterschiedlicher Perspektive mit den
Agrarinnovationen vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert befassen und Probleme
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Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie
Heft 1
/59. Jg. /2011

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aufzeigen, die auch für due gegenwärtige Agrar- und Umweltpolitik relevant sind. Bei
der Diskussion der einzelnen Vorträge sollen jeweils aufgekommene Fragen erörtert
und neue Antworten gesucht werden, soweit dies möglich ist. Fragestellung und Ta-
gungsablauf wurden konzipiert von Prof. Dr. Werner Rösener (Universität Gießen).
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